Erweiterte Sachverhaltsabklärung bei Selbständigerwerbenden

Erläuterungen

1. Anspruchsvoraussetzungen

1.         Wann ist jemand selbständig erwerbend?

1.1.      Definition von selbständiger Erwerbstätigkeit

In Art. 5 in Verbindung mit  Art. 9 Abs. 1 Bundesgesetz über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG, SR 831.10) wird die Selbständigkeit folgendermassen definiert: Einkommen aus selbständiger Tätigkeit ist jedes Erwerbseinkommen, das nicht Entgelt für in unselbständiger Tätigkeit geleistete Arbeit ist, d.h. wenn der Beitragspflichtige durch Einsatz von Arbeit und Kapital in frei bestimmter Selbstorganisation und nach aussen sichtbar am wirtschaftlichen Verkehr teilnimmt mit dem Ziel, Dienstleistungen zu erbringen oder Produkte zu schaffen, deren Inanspruchnahme oder Erwerb durch finanzielle oder geldwerte Gegenleistung abgegolten wird (vgl. BGE 115 V 170 f. E. 9a).

1.2.      Personengruppe

Als Selbständigerwerbende gelten Inhaber einer Einzelfirma und Gesellschafter einer Einfachen Gesellschaft sowie Gesellschafter einer Kollektiv- oder Kommanditgesellschaft. Ausserdem können nach den Regeln für die Unterstützung Selbständigerwerbender auch Personen unterstützt werden, die zwar bei einer Gesellschaft angestellt sind, diese aber vollständig beherrschen. Weiter gehören in der Regel auch Bauern zu den Selbständigerwerbenden.

2. Selbständige Erwerbstätigkeit in der Sozialhilfe

2.1.      Allgemeines

Grundsätzlich sind Selbständigerwerbende eigenverantwortlich und müssen das damit verbundene Geschäftsrisiko selbst tragen. Da im Sozialhilferecht nicht zwischen einzelnen Klientengruppen unterschieden wird, gelten auch für Selbständigerwerbende die allgemeinen Bestimmungen über die wirtschaftliche Hilfe sowie die SKOS-Richtlinien. Auch sie müssen nach Möglichkeit alles unternehmen, um ihren Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln zu bestreiten und keine Sozialhilfeleistungen beanspruchen zu müssen. Die Unterstützung von Selbständigerwerbenden darf jedoch nicht zu Wettbewerbsverzerrungen führen. Es sollen deshalb aus Mitteln der Sozialhilfe auch keine Geschäftsschulden übernommen werden.

2.2.      Befristete Unterstützung

Selbständigerwerbende werden in der Regel lediglich überbrückend unterstützt und die Unterstützung ist an verschiedene Rahmenbedingungen gebunden. Die spezielle Situation von Selbständigerwerbenden hat deshalb auch Auswirkungen auf die Sachverhaltsabklärung durch die Sozialbehörde. Voraussetzung für die Gewährung von wirtschaftlicher Hilfe ist ausserdem die Bereitschaft, innert nützlicher Frist eine fachliche Überprüfung des Geschäfts vornehmen zu lassen.

Solange der Betrieb weitergeführt und gleichzeitig wirtschaftliche Hilfe bezogen wird, sind klare Anforderungen an die Betriebsführung und Kostenstruktur zu definieren und Ziele zur Rentabilitätssteigerung festzulegen. Diese müssen regelmässig überprüft werden. Dies auch im Zusammenhang mit der Festlegung bzw. Überprüfung der Höhe der wirtschaftlichen Hilfe.

Weiter soll eine schriftliche Vereinbarung abgeschlossen werden, welche mindestens folgende Punkte regelt:

  • Frist für das Beibringen der notwendigen Unterlagen
  • Frist für die fachliche Überprüfung
  • Zeitdauer (in der Regel auf sechs Monate befristet)

Achtung: Die Auflage, wonach sich aus der selbständigen Erwerbstätigkeit bis zu einem bestimmten Zeitpunkt ein existenzsicherndes Einkommen ergeben müsse, ist grundsätzlich zulässig. Sie bildet aber bei einem Misserfolg keine Grundlage dafür, unmittelbar nach diesem Zeitpunkt die Leistungen zu kürzen. Vielmehr ist dann zunächst eine Frist zur Liquidation des Betriebs anzusetzen und die betroffene Person aufzufordern, eine neue Stelle zu suchen.

2.3.      Abklärung der wirtschaftlichen Verhältnisse

Bei Selbständigerwerbenden ist die Abklärung der wirtschaftlichen Verhältnisse oftmals um­fangreicher und anspruchsvoller. Einerseits verfügen sie über keinen Lohnausweis, weshalb ihr (erzielbares) Einkommen aufgrund von Buchhaltungs- bzw. Steuerunterlagen und eventuell anhand von branchenüblichen Erfahrungswerten festzustellen ist. Häufig gestaltet sich im Moment der Antragsstellung die Situation als noch unklar. Ist aber die aktuelle Bedürftigkeit zumindest glaubhaft dargelegt und sprechen die bereits vorhandenen Unterlagen für das Vorliegen einer Notlage, ist die Unterstützung aufzunehmen.

Über die (definitive) Ausrichtung der wirtschaftlichen Hilfe kann erst nach einer sorgfältigen Sachverhaltsabklärung und einer genauen Kenntnis der Verhältnisse entschieden werden. Dabei sollten die Buchhaltung (wo eine solche besteht bzw. gesetzlich vorgeschrieben ist) und die übrigen Angaben kritisch beurteilt werden. Zudem sind Geschäftsunkosten und persönliche Auslagen klar voneinander abzugrenzen. Weigert sich die gesuchstellende Person trotz Mahnung und Androhung der Konsequenzen, Einblick in ihre Unterlagen zu geben oder ausreichend Auskunft über ihre Verhältnisse zu erteilen, kann der Anspruch auf Sozialhilfe nicht geprüft, das Gesuch also nicht behandelt und keine wirtschaftliche Hilfe ausgerichtet werden.

3. Frage der Fortführung einer selbständigen Erwerbstätigkeit

3.1.        Voraussetzungen für die Fortführung der selbständigen Erwerbstätigkeit

Bei der Unterstützung von Selbständigerwerbenden kann grundsätzlich unterschieden werden zwischen dem Ziel der wirtschaftlichen Unabhängigkeit und dem Ziel der Erhaltung einer Tagesstruktur. Sozialhilfebeziehende sollen eine selbständige Erwerbstätigkeit nur dann weiterführen, wenn

  • der Betrieb nicht überschuldet ist und aus den Einnahmen mindestens die Geschäftsunkosten (inkl. nötige Rückstellungen) finanziert werden können
  • oder falls der Betrieb zwar nicht (vollständig) selbsttragend ist, diese Arbeit für sie aber sehr wichtig ist und lediglich ein verhältnismässig geringer, künftig noch reduzierbarer Fehlbetrag verbleibt
  • und sofern zudem nicht damit zu rechnen ist, dass sie in absehbarer Zeit eine (zumutbare) Stelle finden, deren Lohn ihr soziales Existenzminimum (besser) deckt.

Andernfalls muss das Geschäft liquidiert werden und es muss eine geeignete Alternative bzw. eine unselbständige Erwerbstätigkeit gesucht werden. Dies kann auch mit entsprechenden Auflagen verlangt werden. Dies unter Gewährung einer angemessenen Frist, um die Geschäftsaufgabe zu regeln.

Ein allfälliger Erlös aus dem Verkauf des Geschäfts muss normalerweise für den Lebensunterhalt verwendet werden.

3.2.      Unterlagen zur Rentabilitätsprüfung

Um zu untersuchen, ob ein bestimmter Betrieb rentabel ist, ist anhand von Unterlagen wie

  • Bilanz und Erfolgsrechnung
  • Inventar
  • Schulden
  • offenen Rechnungen
  • aktuellen und vergangenen Aufträgen bzw. Bestellungen

abzuklären,

  • wie das Geschäftsergebnis (Ertrag abzüglich Aufwand) sowie der Vermögensstand in letzter Zeit ausgesehen haben
  • wie die aktuelle Lage ist und
  • wie sich diese Faktoren künftig entwickeln dürften.

Insbesondere sind die laufenden Einnahmen und Ausgaben zu ermitteln. Unter Umständen können auch Auskünfte von Banken (insbesondere über die Kreditwürdigkeit) oder Branchenverbänden hilfreich sein.

Beruht die selbständige Tätigkeit auf einer soliden Grundlage und lässt sich das Betriebser­gebnis mit einfachen Massnahmen verbessern, so kann die Sozialbehörde, wo dies angezeigt ist, geeignete Fachleute vermitteln. So wäre es zum Beispiel denkbar, dass im Rahmen von Freiwilligenarbeit gut qualifizierte Pensionierte die betroffene Person in betriebswirtschaftlicher Hinsicht beraten oder begleiten könnten. Die Finanzierung einer professionellen Begleitung kann auch als situationsbedingte Leistung bewilligt werden. Die Unterstützung darf in diesen Fällen mit einer entsprechenden Auflage verbunden werden.

3.3.      Beizug von Sachverständigen

Da eine korrekte Einschätzung der aktuellen Geschäftslage und des zu erwartenden künftigen Geschäftsgangs betriebswirtschaftliches Fachwissen erfordert, ist der Beizug von Sachverständigen empfehlenswert. In SKOS-Richtlinien, Kapitel H.7, wird als Beispiel Adlatus, ein gesamtschweizerisches Netzwerk erfahrener Führungskräfte und Fachspezialisten, genannt. Daraus entstehende Kosten sind dem individuellen Unterstützungsbudget zu belasten.

4. Berücksichtigung des Geschäftsvermögens

Vermögensbestandteile von betroffenen Person, die (in vernünftigem Umfang) in das Geschäft investiert sind und welche zur Weiterführung der selbständigen Erwerbstätigkeit erforderlich sind, gelten als nicht realisierbar. Die Unterstützung der betroffenen Person kann von der Unterzeichnung einer Rückerstattungsverpflichtung abhängig gemacht werden.

5. Selbständigerwerbende aus dem Landwirtschaftsbereich

Es gibt verschiedene Dienstleistungsanbieter, welche die Sozialbehörden dabei unterstützen können, die wirtschaftliche Situation eines Landwirtschaftsbetriebs zu beurteilen.  Im Übrigen ist bezüglich der Spezialitäten bei der Unterstützung von Bauern auf die SKOS-Richtlinien, Kapitel H.7.1 zu verweisen. Die SKOS stellt auch entsprechende Berechnungsformulare zur Verfügung.

6. Selbstständigerwerbende Fahrende

Gemäss Urteil des Bundesgerichts 9c_540/2011 vom 15.03.2012 stehen Fahrende unter einem Minderheitenschutz und können deswegen nicht angewiesen werden, ihre selbstständige Erwerbsarbeit aufzugeben, um eine andere Erwerbsarbeit zu suchen. Im Übrigen gelten grundsätzlich die Vorgaben für selbstständig Erwerbstätige. 

Sonderregelungen Asyl

Keine.

Praxishilfen

Merkmale der verschiedenen Kategorien von Selbständigerwerbenden:

Inhaber Einzelfirma

Grundsätzlich sind dies alle bei der Ausgleichskasse als selbständig gemeldeten Einzelpersonen, die auf eigene Kosten und Verantwortung ohne Weisungsgebundenheit ein Geschäft führen. Ist jemand, der ein Einkommen erzielt und die vorerwähnten Voraussetzungen erfüllt, (noch) nicht bei der Ausgleichskasse angemeldet, ist er als Selbständigerwerbender zu unterstützen. Ausserdem muss er aufgefordert werden, sich bei der Ausgleichskasse als Selbständigerwerbender anzumelden.

Beispiele:

  • Arzt mit eigener Praxis
  • Coiffeur mit eigenem Geschäft
  • Prostituierte
  • Lastwagenchauffeur mit eigenem Lastwagen, der für diverse Unternehmen tätig ist
  • Taxifahrer mit eigenem Auto, der frei über seine Arbeitszeit bestimmen kann.

Gesellschafter einer einfachen Gesellschaft

Nach Art. 530 ff. des Obligationenrechts (OR) ist eine einfache Gesellschaft die vertragsmässige Verbindung von mindestens zwei Personen zur Erreichung eines gemeinsamen Zwecks mit gemeinsamen Mitteln.

Führen also zwei oder mehrere Personen zusammen gleichberechtigt ein Geschäft, ist keine dieser Personen dort mit einem Arbeitsvertrag angestellt und handelt es sich um keine andere Gesellschaftsform wie z.B. eine GmbH, handelt es sich bei den Gesellschaftern um Selbständigerwerbende.

Beispiel:

Zwei Brüder führen zusammen ein Malergeschäft, haben dafür ein Lager gemietet und zwei Autos geleast.

Gesellschafter einer Kollektivgesellschaft

Die Kollektivgesellschaft ist eine Gesellschaft, in der zwei oder mehr natürliche Personen, ohne Beschränkung ihrer Haftung gegenüber den Gesellschaftsgläubigern, sich zum Zweck vereinigen, unter einem gemeinsamen Firmennamen ein Handels-, ein Fabrikations- oder ein anderes nach kaufmännischer Art geführtes Gewerbe zu betreiben. Der Betrieb muss im Handelsregister eingetragen sein.

Das Einkommen von Kollektivgesellschaftern gehört ausdrücklich zum Einkommen aus selbständiger Erwerbstätigkeit (vgl. Art. 9 AHVG), weshalb die Gesellschafter einer Kollektivgesellschaft, welche aus dem Betrieb dieser Gesellschaft Einnahmen erzielen, als Selbständige zu unterstützen sind.

Handelsgesellschaften und Genossenschaften können unter Wahrung der allgemeinen Grundsätze der Firmenbildung ihre Firma frei wählen. In der Firma muss die Rechtsform angegeben werden (Art. 950 Abs. 1 OR). Die Angabe der Rechtsform darf ausgeschrieben oder abgekürzt werden (Art. 950 Abs.2 OR, Anhang zur HRegV). Die eingeführte Abkürzung für die Kollektivgesellschaft lautet «KlG».

Gesellschafter einer Kommanditgesellschaft

Die Kommanditgesellschaft ist eine Gesellschaft, in der sich zwei oder mehrere Personen zum Zweck vereinigen, ein Handels-, ein Fabrikations- oder ein anderes nach kaufmännischer Art geführtes Gewerbe unter einem gemeinsamen Firmennamen zu betreiben. Mindestens ein Mitglied der Kommanditgesellschaft haftet unbeschränkt, während die übrigen Mitglieder als Kommanditäre nur bis zum Betrag einer bestimmten Vermögenseinlage haften (vgl. Art. 594 ff. OR).

Das Einkommen von allen Kommanditgesellschaftern gehört ausdrücklich zum Einkommen aus selbständiger Erwerbstätigkeit (vgl. Art. 9 AHVG), weshalb die Gesellschafter einer Kommanditgesellschaft, welche aus dem Betrieb dieser Gesellschaft Einnahmen (versuchen zu) erzielen, als Selbständige zu unterstützen sind.

Die eingeführte Abkürzung für die Kommanditgesellschaft lautet «KmG».

Merkblatt Unterstützung Selbständigerwerbende